Von „Snowbirds“ und Superlativen

Scottsdale, Arizona, war in den vergangenen Monaten der Nabel von Amerikas Sportwelt.

Wie er und seine Familie „Snowbirds“ geworden­ sind? Jerry Anderson bittet seinen Sohn Tom, ihm ein Fairwayholz aus seinem Golfbag zu fischen, grinst­ und bekennt: „Das passierte in Stufen über etwa fünf ­Jahre. Anfangs kamen wir mit der ganzen Familie nur für ein, zwei Wochen herunter und nahmen uns zwei Hotelzimmer. Dann haben wir uns hier in ein Time-Sharing-Projekt eingekauft und blieben jeweils einen Monat. Aber jetzt wollen wir uns eine Villa in einem Golfresort zulegen und in Zukunft – mit kurzen Unterbrechungen – wohl jeweils von Weihnachten bis in den April hier bleiben. Als richtige ‚Snowbirds‘ eben.“

„Snowbirds“ nennen sie hier, in Scottsdale, Arizona, die menschlichen Zugvögel, die – ähnlich wie Kraniche, Störche oder Wildgänse einem inneren Instinkt folgend – immer im Winter der biestigen Kälte in Boston, New York, Chicago oder Seattle entfliehen und mit ­Linien- oder auch Privatjets in den sonnigen Süden düsen. Überwiegend entweder nach Florida oder Arizona. Hauptsache, viel Sonne und – viele tolle Golfplätze.

Neue Boom-Branchen

Das „Valley of the Sun“, wie sich Arizonas Hauptstadt ­Phoenix mit ihren zahlreichen Vorstädten mit Vorliebe und äußerst werbewirksam nennt, lebte einst von Baumwolle und Zitrusfrüchten. In den letzten Jahrzehnten wurde es von zahlreichen großen Elektronik- und Telekommunikationsunternehmen als Hauptsitz auserkoren. Die immer zahlreicher werdenden Snowbirds verschafften dem Valley of the Sun zwei neue Boom-Branchen, die eng miteinander verwoben sind: den Golftourismus und die Immobilienwirtschaft.

Auch ihrer stetig wachsenden Zahl wegen gilt die Metropolitan Area um Phoenix seit langem als einer der am schnellsten wachsenden Ballungsräume der USA – mit aktuell irgendwo zwischen fünf und sieben Millionen Einwohnern. Es kommt ganz darauf an, wann man zählt – im bullenheißen Sommer oder im milden Winter, wenn die Snowbirds gelandet sind. „Believe me“, strahlt mich Jerry Anderson beim Abschied nach unserer zufälligen gemeinsamen Golfrunde auf dem Acacia-Platz des Kierland Golf Club mitten in Scottsdale mit geradezu missionarischem Eifer an, „there’s no better place in winter than The Valley of the Sun!“

„The greatest show on grass“

Das sehen wohl auch die Verantwortlichen und Aktiven der größten amerikanischen Profi-Sportverbände so. Genau deshalb hätte die Rollenverteilung in den sportverrückten USA in den vergangenen Monaten klarer nicht sein können: 49 Staaten saßen auf der Tribüne bzw. vor der Glotze. Und der 50. Bundesstaat, Arizona, bildete die eine große Bühne, auf die alle starrten – hunderte Millionen Augenpaare aus den USA, Kanada und der ganzen Welt. Denn im Februar und März war das Valley of the Sun, waren Phoenix und seine Vorstädte Glendale und Scottsdale „the place to be“ für alle, deren Herz für Golf, American Football oder Baseball schlägt. 

Zeitlich in der Pole-Position waren die weltbesten Golfprofis, die von 9. bis 12. Februar­ bei den Waste Management ­Phoenix Open auf dem von
Tom Weiskopf kreierten TPC Scottsdale Stadium Course hunderttausenden Zuschauern „the greenest an greatest show on grass“ boten, mit dem besten Ende für Scottie Scheffler. Die seit 1932  ausgetragenen Phoenix Open locken alljährlich an die 600.000 Fans an und dürfen sich damit rühmen, das bestbesuchte Traditionsgolfturnier der Welt zu sein.

Und nebenan der Super Bowl

In diesem Jahr freilich hatten es die amerikanischen Sportevent-Planer auf die Spitze getrieben: Der Finaltag der Phoenix Open fiel – wie schon einmal 2008 – zusammen mit dem Super Bowl Sunday der American Footballer im nur wenige Kilometer entfernten Glendale. Als am 12. Februar im dortigen University of Phoenix Stadium, der Heimat der Arizona Cardinals, Quarterback Patrick Mahomes seine Kansas City Chiefs zu einem knappen 38:35-Sieg gegen die Philadelphia Eagles führte, herrschte endgültig Ausnahmezustand im Valley of the Sun. Jubeln durfte auch die komplette Hotel- und Gastronomie-Branche im Herzen von Arizona: Sämtliche 69.000 Gästezimmer in den rund 500 Hotels und Resorts von Greater Phoenix waren über Wochen komplett ausgebucht – obwohl die Preise geradezu durch die Decke gegangen waren.

Am 12. Februar 2023 holten sich die Kansas City Chiefs den Sieg im Super Bowl.

Und die sportliche High Season war nach den Phoenix Open und dem Super Bowl Sunday noch längst nicht vorbei. Nach den Profi-Golfern und den Profi-Footballern sorgten anschließend, bis weit in den März hinein, die Profi-Baseballer dafür, dass zehntausende enthusiastische Fans aus dem ganzen Land mit Linien- und auch Sonderflügen auf dem Sky Harbour Airport in Phoenix landeten.

Ein Spieler der Giants gibt im Scottsdale Stadium Autogramme.

Im Valley of the Sun trifft sich im Frühjahr schon traditionell förmlich die halbe Mayor League Baseball zum Spring Training, um Kondition zu tanken, raffinierte Spielzüge einzuüben und gegeneinander Testspiele auszutragen. Und wenn dann die San Francisco Giants gegen die Colorado Rockies aus Denver oder die Chicago White Sox gegen die einheimischen Arizona Diamondbacks antreten, füllen zehntausende Hardcore-Fans die Stadionränge und verbreiten Final-Atmosphäre, obwohl es eigentlich um nichts geht.

Kleinstadt mit 51 Golfanlagen

Winter- und Frühlingszeit ist Erntezeit im Grand Canyon State mit seinen über 200 registrierten Golfplätzen. Und nirgendwo fällt die Ernte reicher aus als im kleinen, wohlhabenden Scottsdale mit seinen gerade mal 250.000 Einwohnern. Das sind, nur zum Vergleich, gut 20.000 weniger als im kleinsten der zwölf Stadtbezirke der deutschen Hauptstadt Berlin. Die knapp 478 Quadrat­kilometer, auf denen sich die nordöstliche Vorstadt von ­Phoenix ausbreitet, entsprechen immerhin gut der ­Hälfte der Landfläche Berlins. Der kleine golfsportliche Unterschied: Innerhalb der Berliner Stadtgrenzen gibt es drei Golfanlagen, in Scottsdale hingegen derzeit exakt 51.

„The west’s most western town“

Auch für das Wohlfühlprogramm der Snowbirds nach der im GPS-Cart absolvierten Golfrunde ist bestens gesorgt. „Scottsdale hat im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr luxuriöse Resort- und Day-Spas als jede andere Stadt der Welt“, verkündet stolz Christina Dicksen von der Tourismus-Werbung „Experience Scottsdale“. Wohl in kaum einem anderen Job gehören Superlative so selbstverständlich zum normalen Sprachgebrauch. Die Rückenlehne der schlichten Holzbank, auf der wir beim abendlichen Bummel durch die von Kunstgalerien, Souvenirshops mit Cowboy-Flair und überfüllten Saloons gesäumte Main Street in Downtown kurz rasten, schmückt der geradezu kraftstrotzende Spruch: „Scottsdale – The West’s Most Western Town“.

„The West’s Most Western Town“.

Dass Arizonas Tourismuswerber, wenn’s um internationale Gäste geht, seit Jahren gerade den deutschsprachigen Raum besonders in den Fokus nehmen, hat einen ganz besonderen Grund. 2019, kurz vor ­Corona, zählte Arizona 145.000 deutsche Gäste, die zumeist in Phoenix landeten und von hier aus den Grand Canyon, die ­Rodeo-Stadt Tucson oder auch die White Mountains bei Flaggstaff besuchten. Aus keinem anderen Land außerhalb Nordamerikas kamen mehr ­Gäste, auch dank sommerlicher Direktflüge der Charter-Airline Condor von Frankfurt nach Phoenix, und Christina Dicksen und ihre Kollegen hoffen, die bisherige Rekordzahl 2023 nochmals zu übertreffen.

Einen großen Anteil der deutschen Gäste in Arizona machen selbstredend Golferinnen und Golfer aus, die vor allem ein Ziel haben: Scottsdale mit seinen großartigen, vielfach preisgekrönten, von Tom Weiskopf, Jack Nicklaus, Pete Dye oder anderen legendären Course-Designern geschaffenen Edelplätzen am Rande der Sonora-Wüste mit ihren stolzen endemischen Saguaro-Kakteen, wie man sie aus alten Westernfilmen kennt.

Deutsche Reisen Antizyklisch

Was die deutschen Gäste für Arizona so wertvoll macht: Sie kommen überwiegend anti­zyklisch, also im Sommerhalbjahr, wenn die amerikanischen und kanadischen Snowbirds sich weitgehend wieder in den Norden verzogen haben – und viele Hotelzimmer und Ferien­wohnungen leerstehen. Die Deutschen urlauben preisbewusst und nehmen dafür Temperaturen nahe 40 Grad Celsius in Kauf – sogar auf den Golfplätzen. Selbst absolute Top-Plätze wie die berühmten Monument und Pinnacle Courses von Troon North ganz im Norden Scottsdales kann man in der Nebensaison, also im Hochsommer, für Greenfees um die 100 Dollar buchen.

In der gerade zu Ende gegangenen, durch Golf-, Football- und Baseball-Profis und ihre Fan-Heerscharen angeheizten High Season lagen die Greenfees in Troon North zwischen 500 und 600 Dollar – theoretisch; denn wer seine Abschlagzeit nicht schon vor Monaten gebucht hatte und naiv-leichtsinnig kurzfristig an der Rezeption im Clubhaus anfragte, wurde in aller Regel mit dem Satz beschieden: „Sorry, we’re sold out!“ Erfahrenen Snowbirds wie Jerry Anderson würde so etwas nie passieren …

Exklusives Golfvergnügen

Wem es beim Preis auf ein paar Nullen vor dem Komma nicht ankam, musste freilich auch im Umfeld von Phoenix Open und Super Bowl Sunday die Hoffnung nicht vorzeitig begraben. Da gibt es jenen Privatclub – lassen wir jetzt mal den Namen beiseite – nahe dem Pinnacle Mountain mit drei herausragenden Plätzen und ebensolchen Eintrittspreisen, wo die Aufnahmegebühr um die 150.000 Dollar betragen soll. Wer nur ein einmaliges, dafür sehr exklusives Golfvergnügen sucht, kann ein dreitägiges ­„luxury golf-weekend“ buchen, mit Privatvilla, Sterneküche, gefittetem Schlägersatz, Golf-as-much-as-you-can, Massagen und allem Drum und Dran. Das Ganze für schlappe 30.000 Dollar – pro Person, versteht sich. Scottsdale lässt eben keinen Superlativ aus. Schönes Spiel!

Medianachweis: Wolfgang Weber, Experience Scottsdale

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